Zehn Jahre ist es her, dass die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland in Kraft getreten ist. Sie fordert, eine inklusive Gesellschaft für alle zu schaffen, in der Menschen mit und ohne Behinderung gleichberechtigt und mit gleich guten Chancen ein selbstbestimmtes Leben führen können. Was aber ist in den zehn Jahren wirklich passiert? Wohin bewegen wir uns? „Fraglos sind einige gute Dinge in den letzten Jahren auf den Weg gebracht worden: Es gibt Aktionspläne im Bund und in den einzelnen Bundesländern. Es gibt in einzelnen Bereichen den Willen des Gesetzgebers, etwas zu bewirken. Etwa durch barrierefreien Bus- und Bahnverkehr oder durch die Verpflichtung zum barrierefreien Bauen. Auf der anderen Seite scheint ,Inklusion‘ momentan für viele Menschen geradezu ein Reizwort zu sein, etwas das als schwierig, wenn nicht gar utopisch angesehen wird“, meint Patrick Alberti, kommunaler Behindertenbeauftragter des Rhein-Neckar-Kreises, anlässlich des Europäischen Protesttags der Menschen mit Behinderungen am 5. Mai 2019.
Als Beleg dafür nimmt er unter anderem die Debatte um schulische Inklusion. „Gemeinsamer Unterricht von Kindern mit und ohne Handicap ist noch ein großes Problem. Hier werden häufig nur die Probleme inklusiver Bildung diskutiert, anstatt gemeinsam gute Lösungen zu finden. Dabei steht es mittlerweile außer Frage, dass in Kindertagesstätte und Schule der Grundstein für unser gesellschaftliches Miteinander gelegt wird.“ Ein gut gestaltetes und ausgestattetes Schulsystem könnte die beste Basis für ein offenes und inklusives Miteinander bedeuten, so der kommunale Behindertenbeauftragte. Im Interview plädiert Patrick Alberti für eine positive Haltung gegenüber Inklusion und Vielfalt.
Herr Alberti, was sind für Sie wichtige Faktoren auf dem Weg zu erfolgreicher Inklusion?
Patrick Alberti: „Erstens müssen die Menschen wirklich Lust auf Vielfalt haben und diese auch positiv bewerten. Oft tun sich die Menschen damit aber schwer, weil sie diese Vielfalt in ihrem Leben bisher ausgeblendet haben und sie zum Beispiel gar keinen Kontakt zu Menschen mit Behinderungen hatten. Sie können sich dann schlicht nicht vorstellen, dass das wirklich funktionieren kann, obwohl es schon viele gute Beispiele gibt. Darum ist Inklusion von Anfang an in Kindertagesstätten und Schule so wichtig. Zweitens braucht es den politischen Willen, Inklusion auch wirklich umzusetzen, also gesetzlich gut zu regeln und die ausführenden Akteure wirklich dazu zu verpflichten. Und drittens benötigt es Ressourcen, wie etwa Räume, Personal, Zeit und Geld, um den gesellschaftlichen und politischen Willen auch umzusetzen. Und last but not least die entsprechende Haltung.“
Was genau meinen Sie damit?
Patrick Alberti: „Es geht bei Inklusion nicht nur darum, Kinder mit und ohne Behinderung zusammen in eine Klasse zu stecken. Es geht vielmehr darum, sich selbst als Teil einer vielfältigen Gesellschaft zu begreifen, in der alle Akteure von ihren unterschiedlichen Sichtweisen und Talenten profitieren. Und dieser Funke kann dann auf die Schülerinnen und Schülern überspringen. Studien haben gezeigt, dass von gut gemachter Inklusion in der Schule alle Schülerinnen und Schüler profitieren. Außerdem entwickeln sie viele soziale Kompetenzen, die sie in ihr späteres gesellschaftliches Handeln einbringen können.“
Stichwort Haltung: Wie beurteilen Sie die momentane Diskussion um die vorgeburtliche Diagnostik?
Patrick Alberti: Die Diskussion darüber, ob der Test für eine erste Verdachtsdiagnose auf Trisomie 21 von den Krankenkassen bezahlt wird, ist ein Spiegel unserer Gesellschaft. Momentan werden 90 Prozent der Kinder mit Trisomie 21 abgetrieben. Es ist zu befürchten, dass die Zahl bei Zulassung des Tests sogar noch steigen wird. Die Frage ist nun: Wie frei, selbstbestimmt und informiert ist die Entscheidung der Eltern, für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch, wenn die Gesellschaft über das Leben von Menschen mit Behinderungen schweigt oder allenfalls die Probleme aufzeigt? Wenn keine umfassende, neutrale und damit zeitaufwändige (und entsprechend teure) Beratung erfolgt? Wenn Eltern, die sich für die Geburt ihres Kindes mit Behinderungen entscheiden, um viele Dinge, die für andere selbstverständlich sind, kämpfen müssen? Nicht der Test selbst, sondern unser Umgang damit muss hinterfragt werden. Denn hier entscheiden sich ganz konkret unser Blick auf das Leben mit Behinderungen und unser Umgang damit. Und das ist letztlich wieder eine Haltungsfrage, die sich jeder von uns stellen muss. Das Motto des diesjährigen Europäischen Protesttags der Menschen mit Behinderungen „#MissionInklusion – Die Zukunft beginnt mit dir!“ bringt das sehr gut auf den Punkt.“