Sind junge Menschen heute „unpolitischer“ als früher?
Die 34-jährige spanische Politikwissenschaftlerin Gema García Albacete wird heute von der Lorenz-von-Stein-Gesellschaft e.V. für die beste sozialwissenschaftliche Dissertation der Universität Mannheim ausgezeichnet.
Die Fördergesellschaft des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung (MZES) prämiert seit 1999 jährlich eine Doktorarbeit aus den Fächern Politikwissenschaft, Sozialpsychologie oder Soziologie. Der Lorenz-von-Stein-Preis ist mit 1.000 Euro dotiert.
In ihrer Dissertation „Continuity or Generational Change? A Longitudinal Study of Young People’s Political Participation in Western Europe“ untersucht García Albacete das politische Verhalten Jugendlicher. Politische Teilhabe kann sich auf vielfältige Weise äußern, etwa ganz klassisch durch die Beteiligung an Wahlen und die Mitarbeit in Parteien und Gremien, oder auch nicht-institutionalisiert, wie etwa in Form von Bürgerinitiativen, Demonstrationen oder Online-Petitionen. Weit verbreitet ist in diesem Zusammenhang die Behauptung, die Jugend sei heutzutage unpolitischer als früher. Wissenschaftlich ist diese Aussage bisher nicht ausreichend belegt worden.
Jugendliche wachsen heute anders auf – das beeinflusst auch die politische Partizipation
Diese Diskrepanz zwischen „gefühlter Wahrheit“ und einer sehr dünnen wissenschaftlichen Datenlage verleihe der Arbeit von Gema García Albacete eine besondere Brisanz, betont der Vorsitzende der Lorenz-von-Stein-Gesellschaft, Professor Thomas Gschwend: „Ein kontinuierlicher Trend zur Entpolitisierung der Jugend würde die Zukunft unserer Demokratie in Frage stellen.“
Für ihre Dissertation sammelte und analysierte die Preisträgern alle verfügbaren länder- und generationenübergreifenden Daten aus verschiedenen wissenschaftlichen Erhebungen, wie etwa dem European Social Survey oder dem Eurobarometer. Verschiedene Indikatoren hat sie dabei so aufeinander abgestimmt, dass sie trotz unterschiedlicher Quellen, Zeitpunkte und Kontexte vergleichbar sind. So kann García Albacete die politische Partizipation der Jugend erstens im Laufe der Zeit untersuchen und zweitens auch mit Entwicklungen in anderen westeuropäischen Ländern vergleichen. „Das wurde in diesem Umfang bisher noch von niemandem geleistet. Methodisch und analytisch hat unsere Preisträgerin eine wissenschaftliche Höchstleistung vollbracht“, so Gschwend.
Die Ergebnisse bestätigen zunächst die Vermutung, dass junge Leute heute weniger politisch sind als beispielsweise Gleichaltrige in den 1970er Jahren. Die Preisträgerin kann allerdings belegen, dass dies die heutige Jugend nicht automatisch als unpolitisch kennzeichnet. Ausschlaggebend für viele Unterschiede sei, dass junge Menschen heute später und unter gänzlich anderen Umständen erwachsen würden. Das, was die Autorin für die untersuchten Länder als „politische Generationen“ identifiziert, sei daher nicht über einen Kamm zu scheren, erläutert Thomas Gschwend.
Die Demokratie verändert sich, aber sie stirbt nicht aus
„Die Preisträgerin zeigt, dass sich für Jugendliche von heute der Übergang ins Erwachsenenleben später vollzieht als früher. Die unsicheren ökonomischen Verhältnisse etwa führen dazu, dass die jungen Menschen später als früher eine Familie gründen und Kinder bekommen. Natürlich bestimmt das auch ihr politisches Verhalten, das erst zu einem späteren Zeitpunkt als ,typisch‘ erwachsen gelten kann. Unsere Demokratie verändert sich also, sie wird aber sicher nicht aussterben“, so Thomas Gschwend.
Der Lorenz-von-Stein-Preis wird im Rahmen der Absolventenfeier der Fakultät für Sozialwissenschaften am heutigen Freitag, 29. Juni 2012, verliehen.
Doktorarbeit an der durch die Exzellenzinitiative geförderten GESS entstanden
Gema García Albacete lehrt und forscht seit September 2009 am Lehrstuhl für Politische Wissenschaft und International Vergleichende Sozialforschung von Professor Jan W. van Deth. Ihre Doktorarbeit hat sie an der durch die Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder geförderten Graduiertenschule „Graduate School of Economic and Social Sciences“ (GESS) der Universität Mannheim geschrieben. Zuvor hatte sie an der Universidad Autónoma de Madrid, der London School of Economics und der Central European University in Budapest studiert.
(Presse Universität Mannheim)