Wissenschaftsministerin Theresia Bauer: „Solche Forschungsprojekte sind unverzichtbar für unsere Demokratie. Wir können daraus viel für unser demokratisches Handeln und Selbstverständnis lernen“
Bedeutung der Rolle der Landesministerien in NS-Zeit wurde unterschätzt / Folgeprojekt nimmt Opferdiskriminierung durch die öffentliche Verwaltung nach 1945 in den Blick
Im Staatsarchiv Ludwigsburg wurden heute (29. April) die beiden Teilbände der Publikation „Die Landesministerien in Baden und Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus“ vorgestellt. Damit hat das 2014 von der baden-württembergischen Landesregierung initiierte und der Baden-Württemberg Stiftung finanzierte Forschungsprojekt, das die Rolle der südwestdeutschen Landesministerien im Herrschaftssystem des „Dritten Reiches“ aufklären sollte, einen Abschluss gefunden. Mit ihrer Arbeit bringt die Kommission Licht in einen bislang wenig beachteten Teil der nationalsozialistischen Machtgrundlagen: die Rolle der Länderregierungen zwischen 1933 und 1945.
„Der verantwortungsvolle Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus ist elementar für unsere gesellschaftliche Identität wie auch für die politische Kultur. Für die Landesregierung ist dieses anspruchsvolle Forschungsprojekt von immenser Bedeutung, denn hier wird die Rolle der institutionellen Vorgänger unserer heutigen Landesministerien systematisch untersucht und historisch bewertet. Das Land macht sich damit ehrlich vor seiner Geschichte und bekennt sich zur bleibenden historischen Verantwortung seiner Institutionen“, sagte Wissenschaftsministerin Theresia Bauer am Montag (29. April) in Ludwigsburg.
Anlässlich der Buchvorstellung dankte die Ministerin den beteiligten Historikerinnen und Historikern für die akribische Dokumentation und fundierte Analyse der Mitwirkung der NS-Landesministerialbürokratie in der Diktatur. „Entgegen bisheriger Annahmen gab es durchaus Handlungsspielräume auf Landesebene. Die Ministerien nutzen diese oftmals sogar zur verschärften Umsetzung der Reichsdirektiven. Sie waren damit Teil des nationalsozialistischen Systems, handelten auch eigenverantwortlich. Umso mehr hat das heutige Baden-Württemberg die Pflicht zur Erinnerung und Aufarbeitung.“
Bauer würdigte das Forschungsprojekt als einen Beitrag zur historischen Selbstvergewisserung von Landespolitik und Landesverwaltung und hob zugleich hervor: „Die Selbstverständlichkeit und Mühelosigkeit, mit der sich das alltägliche Verwaltungshandeln an die herrschende Doktrin angepasst hat, gibt zu denken. Die gewonnenen Erkenntnisse werfen wie mit einem Brennglas Licht auf die Verletzlichkeit der Demokratie. Auch unsere Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie heute sind fragile Güter, um die stets neu gerungen werden muss.“ Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zeige auch die Notwendigkeit einer festen ethischen und politischen Orientierung von Vewaltung und Bürokratie, um demokratische Ordnungen zu stabilisieren.
Dies bekräftigte Prof. Dr. Wolfram Pyta (Universität Stuttgart), Mitherausgeber der Publikation mit dem Hinweis, dass eines der zentralen Ergebnisse des Forschungsprojekts die hohe Anpassungsbereitschaft und Anpassungsfähigkeit der Ministerialbeamtenschaft gewesen sei: „Die neuen Machthaber mussten daher gar nicht mit ‚eisernem Besen‘ kehren und ‚Parteigenossen‘ systematisch plazieren, weil die höhere Beamtenschaft eine große Kooperationsbereitschaft bekundete. Eingefahrene Karrieremuster wie ausgeprägtes Laufbahndenken beförderten dieses proaktive Entgegenarbeiten“.
Folgeprojekt weitet Betrachtungszeitraum aus bis 1952
Dr. Andreas Weber, Leiter der Abteilung Bildung der Baden-Württemberg Stiftung, unterstrich, dass der Befund der politischen Anpassung der Beamtenschaft im Nationalsozialismus die Frage aufwerfe, wie sie sich nach dem Ende der Diktatur verhalten habe und wie man im Südwesten beim demokratischen Wiederaufbau mit der NS-Vergangenheit umgegangen sei: „Die Forschungsarbeiten zur NS-Vergangenheit bis zur sogenannten ´Stunde Null` legen den Schluss nahe, dass es sinnvoll ist, den Zeithorizont der Betrachtung für die Nachwirkungen der nationalsozialistischen Herrschaft über den bislang untersuchten Zeitraum hinaus auszudehnen. Dabei war dem Aufsichtsrat der Baden-Württemberg Stiftung wichtig, dass der schon im ersten Projekt erfolgreich realisierte zentrale Ansatz der ´Public History` handlungsleitend bleibt. Damit können die Erkenntnisse unmittelbar und projektbegleitend der Öffentlichkeit vermittelt, in die Lehre in Hochschule und Schule eingebunden und damit ein hoher gesellschaftlicher Mehrwert erreicht werden.“
Prof. Dr. Edgar Wolfrum (Universität Heidelberg) dankte Wissenschaftsministerin Bauer für die Intiative und der Baden-Württemberg Stiftung für die Förderung des Projekts „Reintegration, Schuldzuweisung und Entschädigung – Bewältigung und Nicht-Bewältigung der NS-Vergangenheit in den drei Vorgängerländern Baden-Württembergs 1945-1952“. Mit einem Fokus auf der Kontinuitätsproblematik knüpfe das Projekt, so Wolfrum, an die Fragestellungen abgeschlossener und laufender behördengeschichtlicher Forschungen an, setze dabei aber eigene Akzente: „Wir wollen untersuchen, wie die Kontinuitäten ermöglicht wurden und welche Folgen sie für die Opfer des Nationalsozialismus hatten, und es soll aufgezeigt werden, wie die südwestdeutschen Landesregierungen im Umgang mit der NS-Vergangenheit eigene Handlungsspielräume nutzten, die sich ihnen im Übergang von der alliierten Besatzungsherrschaft zur Gründung der Bundesrepublik boten“.
„Es ist richtig, dass wir nicht nur die Täter in der Zeit des Nationalsozialismus in den Blick nehmen, sondern auch die Opferdiskriminierung durch die öffentliche Verwaltung nach 1945 und die bürokratischen – personellen – Kontinuitäten über den Systemwechsel hinaus betrachten“, betonte Ministerin Bauer abschließend.
Weitere Informationen
Das Projekt wurde maßgeblich von der Baden-Württemberg Stiftung finanziert, die 1,45 Mio. Euro für die dreijährige Projektlaufzeit zur Verfügung stellte.
Zusammenfassung zentraler Forschungsergebnisse
Die erstmalige systematische Untersuchung der Rolle der Landesministerien im Herrschafts- und Verwaltungsapparat der NS-Diktatur zeigt, dass deren Bedeutung bislang unterschätzt worden ist: Zwar verloren die Länder 1934 im Zuge der Verwaltungszentralisierung ihre Justizministerien; die übrigen Ressorts wurden aber durch die „Verreichlichung“ nicht marginalisiert, sondern konnten sich beträchtliche politische Einflussmöglichkeiten erhalten und teilweise auch neue hinzugewinnen. Das Projekt macht deutlich, wie die teils zurückhaltende, teils willfährige, teils skrupellose Mitwirkung zahlreicher Landesbediensteter an der nationalsozialistischen Herrschaftspraxis die Durchsetzung und Ausgestaltung des ‚Dritten Reichs‘ vor Ort, im sozialen und regionalen Nahbereich, erst ermöglicht hat.
Im Fokus der Recherchen standen die Biographien der badischen und württembergischen Ministerialbeamten, die in unterschiedlichen Funktionen auch an der NS-Repressionspolitik beteiligt waren. So kam es 1933 nur zu moderaten Eingriffen in den Personalbestand der Landesministerien – ihre Umwandlung in Werkzeuge der Diktatur war vielmehr ein Prozess der Selbstgleichschaltung der Beamtenschaft und Ausdruck eines kollektiven politischen Opportunismus. So wie bei der nationalsozialistischen Machtübernahme ein administrativer Elitentausch ausgeblieben ist, hat auch das Kriegsende 1945 keine gravierende Zäsur dargestellt: Einer großen Zahl von NS-belasteten Ministerialbeamten ist die Rückkehr in den öffentlichen Dienst Baden-Württembergs und seiner Vorgängerländer gelungen – dies indes ist keine südwestdeutsche Besonderheit, sondern der bundesweite Normalfall gewesen, so die Wissenschaftler.
Publikation
Frank Engehausen, Sylvia Paletschek und Wolfram Pyta (Hg.): Die Landesministerien in Baden und Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen Band 220), Stuttgart: Kohlhammer 2019, LXXXI und 992 Seiten mit 103 Abbildungen, ISBN 978-3-17-035357-2, 78,- €.